Short-Stories

Die Dose

Der Reiter wirkte abgehärmt, seine ledernen Hosen zerrissen, das Oberhemd schmutzig braun, die Strickjacke vielmals gestopft. Die langen, weißen Haare fielen ihm in fettigen Strähnen über die Schultern, der hellgraue Bart zottelig. Das Pferd, ein abgehalfterter Gaul, der schon lange auf einer sonnigen Weide beim Gnadenbrot stehen sollte, bis auf die Rippen abgemagert, der Schwanz ein zausiger Fetzen. Der Weg verlief bergan, die Mauern des Schlosses ragten vor den beiden, in ihrer offensichtlichen Tristesse sich so ähnlich sehenden Gestalten, hell leuchtend auf.

Das Ziel einer langen, einer lebenslangen Reise. Fürwahr ein Leben voller Entbehrungen, Tälern, schier unbezwingbaren Felswänden, Abgründen. Ihn wählte man einst aus, die Menschheit zu vertreten, bei der Suche nach dem Sinn, dem Ursprung. Sein Weg führte ihn nach allen Höhen,Tiefen, all den falschen Pfaden, Irrtümern, Verlockungen, hierher. Päpste, Wissenschaftler, Ärzte berieten ihn, alles Wissen der Welt hatte er gesammelt. Was lehrte ihn das? Das Ungemach der Welt, die Katastrophen, der Tod, – das Leid schlechthin stellte die Ursache dar! Alles drehte sich um … ja! Die Büchse der Pandora. Und hier verbarg sie sich, in diesem Gebäude, diesem Schloss, an jenem abgelegenen, jeder Zivilisation fernen Ort. Wie von Zauberhand senkte sich knarzend die Zugbrücke, Pferd und Reiter überquerten sie mit dem hallendem Geräusch der Hufe auf den Holzbohlen. Am Ziel! All die Erfahrungen, die er in seinem Dasein gesammelt, die er sich erworben, anerzogen hatte, die ihm zufielen, die ihm aufgezwungen, aufoktroyiert wurden, führten ihn letztlich hierher. Die Summe seiner Weisheit, die geballte Bibliothek menschlichen Wissens, die ihm zur Seite stand, leiteten den Reiter zur Dose der Pandora.

Er saß ab, ließ das zitternde Pferd im nebeligen Vorhof stehen. Eine steile, aus groben Steinblöcken gefertigte Treppe führte zu dem mächtigen Eichenholzportal. Er fühlte sich erschöpft, ausgelaugt, doch das Wissen um die Existenz der Dose, die da offen stand, die hinter diesem Holz ihren unheilvollen Schwaden von sich gab, straffte ihm erneut die Glieder. Die Tür tat sich nach leichtem Druck auf. Ein gigantischer Saal. In der Mitte ein Tisch, die Dose stand mit dem Rücken zu ihm, er konnte das Oberteil des aufgeklappten Deckels, nicht den Inhalt sehen. Langsam schritt er, die Hand am Schwert über den Marmorfußboden zu dem Tisch, der wie ein Altar anmutete. Er trat an den Schrein heran, erblickte ihn von vorne.
Die Schachtel Pandoras leer. Er begriff. Schon immer leer!

Eingearbeitet in den Deckel jedoch: Ein Spiegel! Ein Spiegel! Entsetzt schloss er die Dose. Die Menschheit hörte auf zu existieren und die Erde genas zu einem Planeten der Freude.

Gabriel

In einer unbekannten Zeitrechnung wuchs in einem einsamen Dörfchen, inmitten der fruchtbaren Steppe, ein Junge namens Gabriel auf. Sein Vater, Ion, besaß die einzige Schmiedewerkstatt weit und breit. Ein Mann, eben genau gleich einem Schmied. Ein mächtiger Oberkörper, dicke Muskelpakete an den Oberarmen, die Hände wahre Pranken. Sein imposanter Schnurrbart, den er nach Art der Sippe in langen Strähnen bis auf den Bauch trug, verlieh seinen Gesichtszügen etwas brutales. Doch wer ihn näher kannte, wie es sich Gabriel einbildete, der konnte den Träumer, den Denker, den Künstler erkennen. Die Mutter Gabriels, sie hieß Deba, schien neben ihm wie eine Fee. Klein, feingliedrig, die zarten Gesichtszüge einer Elfe. Ihre blonden Haare perfektionierten das Bild. Eine gut funktionierende Ehegmeinschaft, denn Deba stellte gerade das Gegenteil von Ions Charakter dar, zumindest nach Außen hin. Sie sprühte vor Energie. In der Dorfgemeinschaft, die gerade einmal aus 50 Häuschen bestand, gab es nichts, das sie nicht mit ihrer Fröhlichkeit aufgewertet hätte. Gabriel nun hatte den Körperbau der Mutter und das grüblerische Wesen des Vaters geerbt. Seine Haare jedoch wiesen die Farbe polierten Ebenholzes auf. Wie bei allen Kindern ließ man das Haar wachsen, flocht einen Zopf. Erst beim Mannbarkeitsritual, bei den Mädchen die Aufnahme in die Frauengruppe, schnitt man das Haar ab. Im nächsten Lebensabschnitt würde es erneut wachsen, den Zopf flocht man dann nicht mehr. Diese Tradition beruhte auf dem Glauben, Haare gehörten zum Kopf, in ihnen seien die Träume abgelegt. Nicht lediglich Gabriels Statur ließ den Vater schnell erkennen, dass sein Sohn sich nicht als Nachfolger im Beruf des Schmiedes eignete. Nichtsdestotrotz hielt er ihn zu schwerer körperlicher Arbeit an, so dass aus dem fragilen Knaben ein muskulöser, schlaksiger junger Kerl wuchs.&xnbsp;Das Leben, dies schien Gabriel nicht nur so, glich dem Dasein in einem Paradies. Trotz, vielleicht auch wegen der Arbeit in Ions Werkstatt, fehlte es ihm an nichts. Dasselbe konnte man mit Fug und Recht von jedem der Bewohner der Häusergemeinschaft behaupten. Das lag wohl zu einem Gutteil an dem bescheidenen politischen System, welches das Zusammenleben regelte. Es bestand aus einem Rat der weisen Frauen, der jeweilige Rang als eines der neun Mitglieder vererbte sich auf die jeweils älteste Tochter. Das System funktionierte seit Urgedenken hervorragend. Niemand besaß darum die Muße oder das Verlangen es sich anders vorzustellen.

Gabriel stand jede Möglichkeit, die sich im Rahmen des Dorfes und der Umgegend ergab, zu seiner Verfügung. Er besaß ein festes Dach über dem Kopf, das Essen wurde drei Mal täglich serviert, geistige Getränke, denen er im Übrigen eher abgeneigt auftrat, gab es in der Wirtsstube. Die Mädchen hätten Reihe angestanden, wäre er nicht vollkommen glücklich in das unbestritten schönste Fräulein des Dorfes verliebt gewesen, die diese Liebe zudem erwiderte.

Der Glaube der Menschen, eine Fruchtbarkeitsreligion, die sich an der Sonne als Mittelpunkt göttlichen Daseins wandte, legte in der Sexualität keinerlei Beschränkungen auf. Allgemein bekannte Kräuter verhinderten ungewollte Schwangerschaften.

Gabriel hatte, als das Mannbarkeitsritual in vorstellbare Nähe rückte, alles an Erfahrungen und Wissen ausgeschöpft, seine unmittelbaren Wünsche allesamt erfüllt. warum nicht so weiter leben? Doch da gab es diesen Käfer, er wohnte zwischen seinen Augen, hinter der Stirn. Gabriel wusste bis ins Kleinste wie er aussah. Ein gewöhnlicher Mistkäfer. Der flüsterte. Was ist der Sinn? Gibt es nicht noch mehr? Gibt es denn nichts anderes? Die Sexualität ließ sich nur bis zu einem bestimmten Punkt ausleben, den sein Körper, trotz jugendlicher Vitalität ihm setzte. Alkohol und Drogen gaben ihm nichts. Bücher gab es keine. Die Arbeit, nun gut, er besaß alles was er benötigte, mehr. Eine Ehe, Kinder? Der Käfer ließ ein lautstarkes Räuspern hören.So verlegte sich Gabriel auf das Essen. Er aß alles, tatsächlich. Mit all seinen Sinnen. Zuerst lediglich die einheimische Küche, bis zum Überdruss, einem entsprechendem Gewicht, das ihn nicht mehr laufen ließ. Er verlegte sich auf die Früchte des Waldes, er ernährte sich eine gute Zeit von Kräutern, Früchten, probierte sämtliches Wild, die Insekten durch. Selbst vor Holz machte er nicht halt. Bald fand er sich in der Lage, die verschiedensten Holzarten nach Sorte, Lage, Alter auseinander halten. Er aß Felsen, Erde, probierte sich sogar an Metallen. Endlich gab es nichts mehr, das er nicht bereits probiert hätte. Lange Zeit überlegte er.

Konnte dies alles sein, was die Sonne, der Gott, zu bieten hatte? Der Käfer hinter sein Stirn sprang auf und ab.

Nun begann Gabriel die Farben zu essen. Es fand seinen Anfang auf einem Waldspaziergang, er suchte genießbare Wurzeln. Das Blättchen eines Busches, an dem er vorbei streifte, faszinierte ihn, von einem Augenblick auf den anderen. Er strich sanft über das Lindgrün der Struktur, da blieb ein wenig an seiner Fingerspritze hängen. Ehe er sich versah, steckte er den Finger in den Mund.

Der Käfer kicherte. Herb, schmeckte dieses Grün, ein wenig salzig. Fasziniert streifte er durch den Wald, probierte hier und dort, verfiel in einen wahren Geschmacksrausch, der natürlich daheim kein Ende fand. Jeden Farbton seines Elternhauses, des Dorfes, der Menschen, Tiere, Haushaltsgegenstände kostete er. Da schmeckte das Muster der Schlafdecke nach bitterer Mandel, das Schwarz des Schmiedehammers dagegen süßlich, verwesungsartig. So tastete er, trunken vor Sinneseindrücken, durch die Kolorierungen. Schließlich, viele Jahre sammelte er die Eindrücke, fand auch dieses Erleben sein Ende. Mehr! Da muss noch anderes existieren! knarzte der Käfer, senkte seine Kneifer in Gabriels Hirn.

Mutter, Vater! Liebste Freundin! Ich werde euch verlassen! Es gibt da draußen mehr! Er stand in der geräumigen Stube seines Elternhauses, versuchte verzweifelt, gerade mit diesem entschiedenen Satz, gegen den Drang anzugehen, in Passivität zu verfallen. Hier nun stellte er die Weichen. Sein nunmehr dreißig-jähriges Leben entschied sich. Der Informationsgehalt nebensächlich. Am nächsten Morgen verließ er das heimatliche Dörfchen, als Gepäck nur einen kleinen ledernen Ranzen. Die Wanderung über die Steppenlandschaft erbrachte ihm eine Unmenge neuartige Sinneseindrücke, Geschmäcker, Farben, Formen, doch viele davon kannte er bereits aus der Dorfgemeinschaft. Das änderte sich, als er nach wochenlanger Reise der Hauptstadt näher kam. Da gab es Dinge, die er vorher nie gesehen, gerochen, geschmeckt hatte. Die Stadt selber stürzte ihn in übergroße Verwirrung. Er fand Herberge in einem Häuschen am Stadtrand, erstand ein Pferd. Nur stundenweise erkundete er so das chaotische Konglomerat von Eindrücken, das ihn in der Stadt zu zermalmen schien. So viel Neues! So viel Unbekanntes, nicht erklärliches!

Nahezu weitere dreißig Jahre, das sich immerzu erweiternde Erfahren Gabriels nur von Höhepunkten unterbrochen, wie der Erkenntnis über den Tod, als er seine beiden Elternteile zu Grabe tragen musste, schwieg der Käfer in seinem Kopf. Dann aber meldete er sich dem gealterten Gabriel, schmerzhaft, erneut. Du hast so viel gelernt! Was ist der Sinn? Gott. Die Sonne! antwortete Gabriel, der Suchende. Wo ist die denn? Und der Käfer stieß die Spitzen seiner Greifer in Gabriels Hirn.

Am nächsten Morgen ritt Gabriel fort von der Stadt, die Sonne zu suchen. Zehn Jahre, ein halbes Pferdeleben lang, trabte er über das Land, fuhr über die Meere. Doch den Ort, wo sich der glühende Ball, die Essenz des Lebens schlafen legte, fand er nicht. Am Ende seines Wissens, verzweifelt fand er endlich an einem einsamen Ort im Gebirge eine Höhle. Hier wohnte ein Eremit, ein heiliger Mann. Den fragte Gabriel um Rat. Du hast die Farben der Welt gekostet. nun suchst du die Sonne. Doch finde den Anfang eines Regenbogens und du wirst verstehen!

Gabriel, ein alter Mann schon bald, begann den Anfang der Regenbögen zu suchen. Als sein Pferd starb, begrub er es unter einer Eiche, ging fortan, auf einen knorrigen Stab desselben Baumes gestützt, mit arthritischen Knochen weiter. An einem Abend überraschte ihn ein Gewitterschauer. Als der Regen nachließ, die Sonne durch die Wolken hervorkam, bemerkte Gabriel einen gigantischen Regenbogen sich bilden. Staunend beobachtete er, das das Farbenspiel auf dem benachbarten Hügel seinen Anfang hatte. So schnell ihn seine Füße trugen stürzte er durch das hüfthohe Gras, zerkratzte sich an Büschen, um auf den Hügel zu gelangen. Zitternd stand er letztendlich vor den breiten Farbbändern, die sich hier mit der Erde in einem wundersamen Spiel zu vereinen schienen. Der Käfer verharrte in Stille.

Gabriel trat näher, bückte sich, griff ein Stück eines der mannigfachen Blaus, hier fand man wirklich jeden Farbton. Dieses Blau schmeckte nach Tang, nach Meer, nach Ozean. es schmeckte, wunderbar. Überirdisch. Gabriel begann den Regenbogen zu essen. Er verspeiste eine Farbe nach der anderen, auf Abwechslung achtend, in seltsamer, freudiger Erregung. Als er sein ausgiebiges Mahl zu Ende gebracht hatte, befriedigt rülpste, wurde ihm klar, dass er die Farben der Welt verspeist hatte.

Er blickte sich um, die Welt existierte nicht mehr. In diesem Augenblick, nach nahezu 75 Jahren der Suche, sah Gabriel die Wirklichkeit. Keine Farben, keine Welt. Sie ist nur Illusion. Übrig blieb nur er selbst.

Gabriel, der Sonnenstrahl, der immerzu vermeinte, er sei alleine, in dieser schönen, manchmal furchtbaren Welt, die er verkostet hatte, erkannte, dass er ein Teil der Sonne ist, die keine Farben braucht, denn sie ist die Farbe selbst.

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